Linie und Plastizität – Von der Zeichnung zur Skulptur
Die künstlerische Arbeit von Anna Holzhauer findet ihren Ausdruck vor allem in
den Medien Zeichnung und Skulptur, deren Motivik zwischen Figuration und
Abstraktion angesiedelt ist. In Ausstellungssituationen verbindet die Künstlerin
diese scheinbar differenten Gattungen in installativen Anordnungen und lässt
facettenreiche und komplexe Verbindungen zwischen ihnen entstehen.
Die Zeichnung hat als künstlerisches Ausdrucks- und Gestaltungsmittel historisch
eine außerordentliche Entwicklung durchlaufen und wesentliche Wandlungen
erfahren: von der magischen Verbildlichung, der Vorzeichnung, der Studie und
Skizze hin zur autonomen Kunstgattung. Spätestens seit der Mitte des 20.
Jahrhunderts gilt die Zeichnung als spontanste und unmittelbarste Methode, um
den künstlerischen Prozess an sich zu spiegeln als Kartographie des Gegenstan-
des, der Bewegung, des Raumes und der Idee. Dabei bewegt sich die Zeichnung
stets zwischen Extremen wie Direktheit und Reflexion, zwischen spontanem,
psychischem Notat und kalkulierter Untersuchungsmethode. Heute sind Zeich-
nungen mehr denn je Beschreibungen von Wirklichkeit, sie erzählen Geschichten,
dienen dem Festhalten von Erfahrungen, der Untersuchung von Wahrnehmungen
und dem Nachbilden von Erinnerung.
Dies gilt auch für die Zeichnungen von Anna Holzhauer. Ihr Augenmerk liegt auf
dem Flüchtigen ihrer Umgebung, das sie in ihren zeichnerischen Prozess auf-
nimmt und umkreist, um letztlich innere Bilder und gedankliche Prozesse
anschaulich zu machen. Zeichnen ist hier ein Aufschreiben von Beobachtungen,
bedeutet Kommentierung dessen, was ist. Ihre Arbeiten könnte man auch als
Notationen oder Anmerkungen betrachten, die an die fragmentarischen Schilde-
rungen von Tagebuchaufzeichnungen erinnern. Persönliche Stimmungen,
alltägliche Situationen und Momente, Vorstellungen und Traumhaftes finden in
ihren Zeichnungen einen direkten und unmittelbaren Ausdruck. In Graphit oder
Aquarell entstehen kleinformatige offene Zeichnungen, die aus wenigen sparsa-
men Linien bestehen und meist nur umrisshaft, flächig und mit wenig oder keiner
Binnenzeichnung Bruchstücke von einmal Erlebtem, Gesehenem oder Geträum-
tem wiedergeben. Ihre Werke legen Spuren zu Erinnerungsbildern, die eine
Verbindung zu Vergangenem herstellen und inhaltlich wie formal hinter die
Oberfläche der Erscheinungen führen.
Der Begriff Erinnerung ist eine allgemeine Bezeichnung für ein bewusstes
Ins-Gedächtnis-Rufen bestimmter Erfahrungen respektive Teilerfahrungen zu einem
gegebenen Zeitpunkt und somit ein spezieller Aspekt des Gedächtnisses.
Erfahrungen beruhen auf Lernen und Wahrnehmung, also dem Gewinn und der
Verarbeitung von Informationen; sich erinnern bedeutet, dass man sich zu einem
bestimmten Zeitpunkt ein Bild von etwas gemacht hat. Aber wie verlässlich
sind Erinnerungen? Welche Formen nehmen sie an? Welche Erinnerungen
bleiben? Wie interpretieren wir sie? Und welche Rolle spielen sie für unser Bild
von uns selbst und der Welt?
Bei Anna Holzhauers Untersuchung dieser Fragen entsteht eine Art Zeichensatz,
der auf den ersten Blick sehr vertraut scheint und doch schwer zu entziffern ist.
In ihren Blättern sind eigenartige Gegenstände zu finden, Andeutungen von
Formen ohne Anfang und Ende, häufiger aber noch Fragmente von Körpern und
Gesichtern, Bruchstücke architektonischer Elemente, amorphe und ornamentale
Formen oder grafische Muster – Motive, die an Archetypen des Unbewussten
erinnern und viel Raum für Interpretation lassen. Ineinander gelegte Linien
könnten Pelikane oder Blumenknospen sein, Reihen aneinander gefügter Kreise
werden zu einem Zaun oder textilem Gewebe; eine Hand streckt einen Finger in
ein Wolkengebilde; ein Kopf, völlig von Haaren bedeckt, so dass man nur die
Kinnpartie sieht, wird im nächsten Augenblick zur Samenkapsel; zwei bergspitz-
enartige Gebilde sind jeweils von einer Schachtel bekrönt.
In manchen Zeichnungen gehen einzelne Motive oder Fragmente, die sich vom
Ganzen gelöst haben, mit wieder anderen Ausschnitten neue und überraschen-
de Verbindungen ein. Der Ursprung der Sujets bleibt immer erkennbar, aber
alle Referenzen erschließen bei weitem nicht den Symbolgehalt dieser poetischen
Zeichnungen, immer bleibt ein geheimnisvoller Rest, der sich jeder Beschreibung,
Benennung oder Erkenntnis entzieht. Die Zeichnungen funktionieren als Momen-
taufnahmen und Bruchstücke vorübergehender gedanklicher und emotionaler
Realitäten. Sie erzählen keine zusammenhängende Geschichte, sondern zeigen
vielmehr Momente von suggestiver Bedeutung, die ein Echo unserer eigenen Er-
fahrungen und Erinnerungen sind. Zugleich sind diese Arbeiten aber immer auch
Reflexionen über den Prozess des Zeichnens selbst und stellen grundsätzlich
die Frage nach den Strukturen des Sehens und Wahrnehmens. Die Gleichzeitig-
keit von figurativer Detailtreue und abstrakter Auflösung scheint dabei die
Möglichkeiten des zeichnerischen Aktes an sich auszuloten: Reflexion und Direkt-
heit, Nachforschung und psychisches Notat, kontrollierte Linienführung und
impulsive Energie. Alle Zeichnungen von Anna Holzhauer sind in Schwarz-Weiß
ausgeführt. Dies bedeutet eine Versachlichung, denn der weitgehende Verzicht auf
Farbe geht einher mit einem Verzicht auf die über die Farbigkeit transportierte
Emotion. Die Beschränkung auf Schwarz und Weiß führt zu einem deutlicheren
Hervortreten der Form, zur Verstärkung der Kontraste und schließlich zu einer
Abstraktion, die einen größeren Imaginationsfreiraum für den Betrachter eröffnet.
Die Zeichnung erweitert sich bei Anna Holzhauer auch in den Raum und wird
zur Grundlage ihrer skulpturalen Arbeit, wobei zwischen beiden Gattungen inhalt-
lich wie formal eine enge Verbindung besteht. Einzelne der zeichnerischen
Motive werden aus der Zwei- in die Dreidimensionalität überführt, es entstehen
Plastiken von minimalistischer Form und klarer Struktur, die den fragmentari-
schen Charakter und die Offenheit der Zeichnungen beibehalten. Der bevorzugte
Werkstoff für die Plastiken ist Ton, mit dem sich – so die Künstlerin – ihre
Vorstellungen direkt und flexibel umsetzen lassen. Aber auch andere Materialien
wie Styropor, Holz, Metall oder Kunststoff kommen zum Einsatz. Die Fassung
der Skulpturen ist immer auf eine Farbe reduziert – häufig Schwarz oder Weiß,
was einen grafischen Charakter simuliert. Die Kombination von nur einer
Farbe mit eher matten und stumpfen Oberflächen bietet dem Licht kaum Mög-
lichkeiten Plastizität zu modulieren. Damit werden das Volumen respektive
die Dreidimensionalität der Objekte weitgehend zurückgedrängt zugunsten einer
betonten Wahrnehmung von Flächigkeit und Umriss. Darüber hinaus wird die
Anmutung von Linearität auch mittels der Ausleuchtung erreicht: Durch gezielte
Setzung des Lichts, etwa bei der Arbeit Ohne Titel (Unterstand) entstehen
Schattenlinien, die die Plastik als Zeichnung auf der Wand fortführen und
zugleich deren Volumen wieder in Flächigkeit übergehen lassen. Nicht zuletzt
dadurch werden die Skulpturen wieder an die Zeichnungen zurückgebunden. Viele
Plastiken weisen Öffnungen auf, die dem Betrachter aber nur scheinbar Einblick
gewähren. So besteht Isolierter Körper aus zwei halbrunden, konischen Formen,
die so zueinander gestellt sind, dass in der Mitte eine schmale offene Fuge
bleibt, die sich nach außen als schwarzer Streifen abbildet –im Inneren herrscht
Dunkelheit. Ähnliches gilt für Ebene mit Durchblick für zwei Personen, einem auf
hohen Stangen montierten Kasten, dessen untere Öffnung über eine Leiter zu
erreichen ist. Der im Titel angedeutete Durchblick bleibt verwehrt, denn der
Kasten ist rundum geschlossen. Und selbst wenn die Arbeit sich öffnet und den
Blick in ihr Inneres zulässt, wie beispielsweise Ohne Titel (Helm) – eine Maske,
von deren Gesicht nur die mundartige Öffnung geblieben ist – sieht man zunächst
wiederum nur ihre Form und ihr Material. All das jedoch schafft Raum für
Imagination.
Anna Holzhauers Objekte sind sowohl Skulptur als auch Chiffre und Symbol. Sie
pendeln zwischen Realität und Abstraktion, scheinen sich ständig in einem Über-
gang oder Zwischenstadium zu befinden. Sie besetzen den Raum, fordern zur
Bewegung auf – physisch wie gedanklich – und stellen damit auch die Frage nach
dem Verhältnis von Träger und Inhalt, von Bild und Raum, von Gesamtheit und
Ausschnitt, von Außen- und Innenraum.
Im Arbeitsprozess von Anna Holzhauer führt der gedankliche Entwurf zur
Zeichnung, die Zeichnung zur Plastik, die Plastik führt in den Raum und von dort
wieder zur Zeichnung. Das Arrangement von Zeichnung und Skulptur verdichtet
sich zu Raumbildern. Sich durch diese und in diesen Räumen zu bewegen, geht
einher mit einer ständigen Verschiebung der Perspektive zwischen Innen und
Außen, Nähe und Ferne, Einsicht und Ansicht. Die Bewegung wird zur Metapher
für die Suche nach Erkenntnis. Die Künstlerin liefert uns Bilder, die eine Art
Deja-vu-Erlebnis provozieren und doch pure Erfindung sind. Manchmal legen die
Titel der Arbeiten eine Spur: Isolierter Körper, Unterstand, Strandstücke, Helm,
Zunge, mögliche Berührung, Zapfen. Eine eindeutige Festlegung lässt Anna
Holzhauer jedoch nicht zu; vielmehr entwickelt sie ein System aus Referenzen
und spannungsreichen Assoziationsfeldern, in denen der Betrachter sich selbst
positionieren kann, um Beziehungen zu eigenen Erinnerungen herzustellen
und so den Geschichten hinter den Bildern womöglich auf die Spur zu kommen.
Barbara Heinrich
Line and plasticity – from drawing to sculpture
Anna Holzhauer works primarily in drawing and sculpture, on the border between
figuration and abstraction. In exhibition situations the artist combines these
seemingly distinct genres in installational arrangements, giving rise to multifacet-
ed and complex connections.
Historically speaking, as a mode of artistic expression, drawing has undergone a
remarkable development, shifting fundamentally from a magical process of
visualization to a preliminary means of sketching and study, eventually becoming
a fully autonomous artistic genre. Since the middle of the twentieth century at the
latest drawing has been regarded as the most spontaneous and direct method
of reflecting the artistic process itself – a cartography of an object, of movement,
of space and ideas. Yet drawing always shifts back and forth between extremes
such as directness and reflection, between spontaneous psychological noting and
calculated research method. Today more than ever drawings are descriptions of
reality, they tell stories, record experiences, examine perceptions and reproduce
memories.
This certainly applies to Anna Holzhauer‘s drawings. Their focus lies in transient
moments in her immediate surroundings, which she incorporates and encircles in
the drawing process in order to commit her mental images and thought proces-
ses to the page. Drawing here is jotting down observations, it is a commentary
on what is taking place. Her works can be read as notations, memos, fragmentary
descriptions in diaries. Personal moods, everyday situations and moments, ideas
and dream-like notions receive direct expression in her drawings. Using graphite
or watercolour she makes small-scale drawings using no more than a few sparse
lines, outlines mostly, flat and with little or no shading, to portray fragments of
things once experienced, seen or dreamed. Her works lay a trail to images in the
memory, leading us into the past and beneath the surface of appearance.
Remembering is a general description for a conscious “calling to mind” of parti-
cular experiences or bits of experiences from a specific point in time and thus
constitutes one particular aspect of memory. Experiences are based on learning
and perception, the proceeds and processing of information, in other words;
to remember means that one has formed an impression of something at a specific
point in time. But how reliable are memories? What forms do they assume? What
do we remember when and how? How do we interpret our memories? And what
role do they play in our image of ourselves and the world?
Anna Holzhauer‘s investigation into these questions gives rise to what might
be described as a set of symbols, strongly familiar at first glance, and yet anything
but easy to decipher. Her drawings show strange objects, suggestions of forms
without beginning or end, and in particular, fragments of bodies and faces. Bits of
architectural elements, amorphous and ornamental forms or graphical patterns
- images reminiscent of unconscious archetypes, which allow a plenty of room
for interpretation. Lines situated inside one another might be pelicans or
flower buds (Ohne Titel, 2013); rows of circles become a fence or piece of fabric
(Ohne Titel, 2013); a hand points a finger into a mass of clouds (Ohne Titel, 2012);
a head, completely covered in hair so that only the chin is visible, suddenly
becomes a seed capsule (Ohne Titel, 2013); two mountaintop-like forms
are each crowned with a box (Ohne Titel, 2012). In some drawings individual
forms or fragments that have become separated from the whole enter into
new and surprising connections with other fragments. The subject‘s origins
are always recognizable, but these references can never exhaust the
symbolic content of such poetic drawings; a poetic residue always lingers,
which defies description, definition, understanding. The drawings function as
snapshots and snippets of passing notional or emotional realities. They tell
no cohesive story, but instead show moments suggestive of meaning that
echo our own experiences and memories. At the same time, however,
these works also reflect on the process of drawing itself and fundament-
ally question structures of seeing and perceiving. Here the simultaneity of
figurative truth-to-detail and abstract dissolution seems to sound out the
possibilities of the act of drawing itself: reflection and directness, investigation
and mental notation, controlled line-making and impulsive energy. All Anna
Holzhauer‘s drawings are executed in black-and-white. This effects an objecti-
fication, since by completely forgoing colour she also forgoes the emotion
conveyed by colour. By restricting her palette to black-and-white the focus is
placed more specifically on the emergence of form, the intensification of contrast
and ultimately to an abstraction, which opens up more space for the viewer‘s
Imagination.
Anna Holzhauer drawings also extend into space and becomes the foundation for
her sculptural work, although the two genres are closely linked in form and
content. Some of forms in the drawings are translated into three dimensions,
creating sculptures that are minimal in form and clear in structure, while retaining
the fragmentary character and openness of the drawings. Her preferred sculptural
material is clay, which as the artist says, allow her to realize her ideas with
directness and flexibility. But she also used other materials such as styrofoam,
wood, metal and plastic. The colour of the sculpture is always monochromatic –
often black or white, which simulates a graphic quality. The combination of a
single colour with a surface that is generally matte and lustreless offers few
possibilities for the light to modulate form. Thus the volume or three-dimensiona-
lity of the objects is largely subdued to accentuate flatness and contour instead.
The impression of linearity is also achieved through lighting. For example, by
setting the light at a specific angle in the work Ohne Titel (Unterstand) (2012)
shadow lines are created that continue the sculpture as a drawing on the wall and
at the same time allow its volume to return to flatness. Here too the sculptures
link back to the drawings. Many of the sculptures feature openings, which only
appear to offer any insight. Isolierter Körper (2012), for example, consists of
two conical forms placed together so that a narrow gap remains between them,
which outwardly describes a black stripe – inside is nothing but darkness. A
similar situation arises in Ebene mit Durchblick für zwei Personen (2011), a box
mounted on tall rods with an opening on the underside that can be accessed with
a ladder. The view promised in the title is withheld because the box is
sealed on all sides. And if the work does have an opening that permits a
view into its interior, as for example in Ohne Titel (Helm) (2012) – a mask
of which nothing remains but a mouth-like opening – at first one sees only
its form and material. All of this, however, creates space for the imagi-
nation. Anna Holzhauer‘s objects are sculptures, ciphers, symbols, all at
once. They fluctuate between reality and abstraction and seem to find themselves
in a permanent transition or interim stage. They occupy the
space, invite movement – physical as well as mental – and in so doing
pose the question as to the relationship between carrier and content,
image and space, whole and part, exterior and interior space.
In Anna Holzhauer‘s working process the conceptual idea leads to the
drawing, the drawing to the sculpture, the sculpture leads into the space
and from there, back to the drawing again. The arrangement of drawings
and sculptures condenses into “spatial images” and to move through
and within these spaces is to be accompanied by a constant shifting of perspe-
ctive between inside and outside, near and far, the view from above and within.
The movement becomes a metaphor for the search for understanding. The
artist delivers images that provoke a feeling of déjà-vu despite being pure invention.
Sometimes the titles of the works provide a clue: isolated bodies, dugout, beach
things, helmet, tongue, possible contact, cones. But Anna Holzhauer does not
allow for unequivocal definitions; instead she develops a system of references and tensionfilled fields of association in which viewers can position themselves in
order to create relationships with their own memories and potentially catch
glimpses into the stories behind the images.
Barbara Heinrich